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Zellatlas des motorischen Cortex

    Neurowissenschaftler beschreiben Neuronen in der Regel anhand von drei grundlegenden Merkmalen, ihrer Anatomie oder wie sie unter dem Mikroskop aussehen, ihrer Physiologie oder wie sie auf Reize reagieren, und ihre Transkriptom, das heißt, die genetische Information, die in der Zelle tatsächlich abgelesen wird. Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit untersuchten nun die Eigenschaften verschiedener Neuronentypen im motorischen Cortex der Gehirne von Mäusen, Affen und Menschen, wobei sie dabei neue experimentelle Techniken und Methoden der Datenanalyse nutzten – „Patch-seq“, um eine große Datenbank mit anatomischen, physiologischen und genetischen Informationen von Zellen im motorischen Cortex der Maus zusammenzustellen. Eine der zentralen Fragen dabei war, inwiefern sich die verschiedenen Nervenzelltypentypen voneinander unterscheiden und welchen Einfluss das auf die Hirnaktivität hat. Das BRAIN Initiative Cell Census Network hat nun einen Zellatlas erstellt, der einen Überblick über die verschiedenen Neuronentypen und ihre jeweiligen Eigenschaften im motorischen Cortex liefert, jener Hirnregion, die die Bewegungsabläufe im Gehirn von Mäusen, Affen und Menschen steuert. Dabei wurden genetische Informationen über mehr als eine Million Zellen gesammelt, etwa ihre räumliche Lage, ihre Form und die elektrischen Eigenschaften, und ermittelten ihre Verbindungen zu weiteren Neuronen in anderen Gehirnbereichen. Da die Forschenden die Zellen von Mäusen, Weißbüschellaffen und Menschen analysierten, konnten sie sogar die evolutionäre Entwicklung der verschiedenen Nervenzelltypen nachzeichnen. Das Ergebnis ist ein Zellatlas, der einen bislang nicht gekannten Überblick über den motorischen Cortex und dessen Entwicklung im Laufe der Evolution bietet.

    Dass die Forschenden die drei grundlegenden Eigenschaften bei über 1000 Zellen gleichzeitig messen konnten, ermöglichte ihnen ein tiefes Verständnis dafür, wie die Neuronen im motorischen Cortex miteinander in Beziehung stehen. Mit Verfahren aus dem maschinellen Lernen führten sie die anatomischen, physiologischen und genetischen Informationen zusammen und entdeckten so Beziehungen zwischen den Neuronen, die zuvor nicht bekannt waren. Die großen genetischen Neuronenfamilien haben unterschiedliche anatomische und physiologische Eigenschaften, aber innerhalb jeder Familie zeigen die Neuronen eine sich graduell verändernde anatomische und physiologische Vielfalt. Die Neuronen unterliegen einer Ordnung, die auf Ebene der Familien aus verschiedenen, sich nicht überschneidenden Zweigen wie bei einem Lebensbaum besteht, wobei sie innerhalb jeder Familie jedoch mit Blick auf ihre genetischen, anatomischen und physiologischen Eigenschaften fortlaufende Veränderungen aufweisen, so dass der Baum der Zelltypen eher einem Bananenbaum als einem Olivenbaum ähnelt. Damit schlagen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein völlig neues Modell vor, um die Vielfalt der Neuronen im Gehirn und ihre Beziehungen zueinander zu beschreiben

    Zum Begriff: Das Transkriptom ist die Summe der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle transkribierten, das heißt von der DNA in RNA umgeschriebenen Gene, also die Gesamtheit aller in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle.

    Literatur

    Scala, Federico, Kobak, Dmitry, Bernabucci, Matteo, Bernaerts, Yves, Cadwell, Cathryn, Castro, Jesus, Hartmanis, Leonard, Jiang, Xiaolong, Laturnus, Sophie, Miranda, Elanine, Mulherkar, Shalaka, Tan, Zheng, Yao, Zizhen, Zeng, Hongkui, Sandberg, Rickard, Berens, Philipp & Tolias, Andreas (2021). Phenotypic variation of transcriptomic cell types in mouse motor cortex. Nature, 598, 1-7.
    https://nachrichten.idw-online.de/2021/10/06/erster-umfassender-atlas-der-neuronentypen-im-gehirn-veroeffentlicht/ (21-10-06)