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Die Reversibilität von falschen Erinnerungen

    Erstaunlich leicht gelingt es, Menschen falsche Erinnerungen einzupflanzen, oft sogar an Straftaten, die sie nie begangen haben. Erinnern ist ein sozialer Prozess und beinahe jedes Gespräch über die Vergangenheit verändert die Erinnerung. Warum ist das so?

    Das menschliche Gedächtnis ist fehlbar und verformbar. Insbesondere in der Forensik stellt dies eine Herausforderung dar, da sich Menschen fälschlicherweise an Ereignisse mit rechtlichen Implikationen erinnern können, die tatsächlich nie stattgefunden haben. Trotz des dringenden Bedarfs an Abhilfe gibt es jedoch so gut wie keine Forschung darüber, ob und wie reichhaltige falsche autobiografische Erinnerungen unter realistischen Bedingungen (d.h. unter Verwendung von Umkehrstrategien, die in der realen Welt angewendet werden können) rückgängig gemacht werden können.

    Oeberst et al. (2021) replizieren und erweiteren daher nicht nur frühere Demonstrationen falscher Erinnerungen, sondern dokumentieren auch deren Reversibilität im Nachhinein: Unter Verwendung zweier ökologisch valider Strategien zeigen sie, dass reichhaltige, aber falsche autobiografische Erinnerungen meist rückgängig gemacht werden können. Wichtig ist, dass die Umkehrung spezifisch für falsche Erinnerungen war (d.h. nicht für wahre Erinnerungen auftrat). Falsche Erinnerungen an autobiographische Ereignisse können in der Forensik enorme Probleme verursachen (z.B. falsche Anschuldigungen). Während es in mehreren Studien gelungen ist, falsche Erinnerungen in Befragungssituationen zu induzieren, stellen die AutorInnen hier Untersuchungen vor, die versuchen, diesen Effekt umzukehren und damit den potentiellen Schaden zu reduzieren, und zwar mit Hilfe von zwei ökologisch validen Strategien. Zunächst implantierten sie erfolgreich falsche Erinnerungen für zwei plausible autobiographische Ereignisse (die von den Eltern der Studenten vorgeschlagen wurden, neben zwei wahren Ereignissen). Über drei wiederholte Interviews hinweg entwickelten die TeilnehmerInnen falsche Erinnerungen (gemessen durch State-of-the-Art-Kodierung) an die suggerierten Ereignisse unter minimal suggestiven Bedingungen (27%) und noch mehr unter massiver Suggestion (56%). Sie setzten dann zwei Techniken ein, um die Bestätigung falscher Erinnerungen zu reduzieren: Quellensensibilisierung (die Befragten werden auf mögliche externe Quellen der Erinnerungen aufmerksam gemacht, z. B. Erzählungen aus der Familie) und Sensibilisierung für falsche Erinnerungen (die Möglichkeit, dass falsche Erinnerungen versehentlich in Erinnerungsinterviews entstehen, wird von einem neuen Interviewer angesprochen). Dies kehrte den Aufbau falscher Erinnerungen während der ersten drei Interviews um und brachte die Raten falscher Erinnerungen in beiden Suggestionsbedingungen auf das Ausgangsniveau des ersten Interviews zurück (d.h. auf ∼15% bzw. ∼25%). Im Vergleich dazu wurden die Erinnerungen an wahre Ereignisse insgesamt auf einem höheren Niveau bestätigt und weniger durch die wiederholten Interviews oder die Sensibilisierungstechniken beeinflusst. In einem 1-Jahres-Follow-up (nach den ursprünglichen Interviews und der Nachbesprechung) sank die Rate der falschen Erinnerungen weiter auf 5%, und die TeilnehmerInnen lehnten die falschen Ereignisse mit überwältigender Mehrheit ab. Eine starke praktische Implikation dieser Studie ist, dass falsche Erinnerungen durch einfach zu implementierende Techniken erheblich reduziert werden können, ohne Kollateralschäden an echten Erinnerungen zu verursachen.

    Literatur

    Oeberst, Aileen, Wachendörfer, Merle Madita, Imhoff, Roland & Blank, Hartmut (2021). Rich false memories of autobiographical events can be reversed. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118, doi:10.1073/pnas.2026447118.
    Stangl, W. (2021). Stichwort: ‚False Memory Syndrome‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/1324/false-memory-syndrome (2021-03-25)