Die Rolle des motorischen Cortex bei Wahrnehmungs- und kognitiven Funktionen ist höchst umstritten. Mathias et al. (2021) untersuchten die Hypothese, ob der motorische Cortex bei der Übersetzung von Fremdsprachenvokabeln eine Rolle spielen kann. Menschliche Teilnehmer beiderlei Geschlechts wurden an vier aufeinanderfolgenden Tagen auf fremdsprachliche (L2) Wörter und deren muttersprachliche Übersetzungen trainiert. Die L2-Wörter wurden von ergänzenden Gesten (sensomotorische Anreicherung) oder Bildern (sensorische Anreicherung) begleitet. Nach dem Training hörten die Teilnehmenden die gelernten Wörter und sollten diese in ihre Muttersprache übersetzen.
Während der Übersetzung wurde eine repetitive transkranielle Magnetstimulation (eine neurowissenschaftlichen Technik, bei der Magnetimpulse bestimmte Hirnareale beeinflussen) bilateral an einer Stelle im primären motorischen Cortex (Brodmann-Area 4) in der Nähe des Funktionskompartiments des Arms angewendet. Man wusste bereits, dass Reaktionen innerhalb der stimulierten motorischen Region mit den Verhaltensvorteilen des sensomotorisch angereicherten L2-Wortschatzerwerbs korrelieren. Im Vergleich zur Scheinstimulation verlangsamte die effektive Störung durch repetitive transkranielle Magnetstimulation die Übersetzung von sensomotorisch angereicherten L2-Wörtern, aber nicht von sensorisch angereicherten L2-Wörtern. Dieser Befund deutet darauf hin, dass sensomotorisch angereichertes Training Veränderungen in den L2-Repräsentationen im motorischen Cortex hervorruft, was wiederum die Übersetzung von L2-Wörtern erleichtert. Der motorische Cortex könnte daher eine kausale Rolle bei der Auslösung von sensomotorischen Lernvorteilen spielen und direkt bei der Erinnerung an die muttersprachlichen Übersetzungen von Fremdsprachenwörtern nach sensomotorisch angereichertem Training helfen. Diese Ergebnisse unterstützen multisensorische Theorien des Lernens und stellen reaktivierungsbasierte Theorien in Frage.
Der motorische Cortex trägt offenbar schon nach einer relativ kurzen Zeit des gestenbasierten Trainings zur Übersetzung des fremdsprachlichen Vokabulars bei, was bedeutet, dass der Einsatz von Gesten ein wertvolles Hilfsmittel sein kann, um eine Fremdsprache schneller zu lernen. Interessanterweise trat dieser Effekt sowohl bei konkreten Wörtern wie „Geige“, als auch bei abstrakten Wörtern wie „Demokratie“ auf, sodass offenbar hängt das Gedächtnis für kürzlich gelernte Fremdsprachenwörter von dem sensomotorischen Kontext abhängt, in dem die Wörter während des Lernens erlebt wurden. Viele häufig verwendete Lehrmethoden zum Erlernen neuer Fremdsprachenvokabeln stützen sich ausschließlich auf auditive oder visuelle Informationen, wie etwa das Auswendiglernen von Vokalbelliste, sodass es nun neurowissenschaftliche Belege dafür gibt, warum Lerntechniken, die das motorische System des Körpers einbeziehen, dieses Lernen unterstützen können.
Literatur
Mathias, Brian, Waibel, Andrea, Hartwigsen, Gesa, Sureth, Leona, Macedonia, Manuela, Mayer, Katja M. & von Kriegstein, Katharina (2021). Motor cortex causally contributes to vocabulary translation following sensorimotor-enriched training. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.2249-20.2021.