Vorbemerkung: In den Neurowissenschaften hält etwas verspätet – die Psychologie ist hier schon einige Generationen früher zu vergleichbaren Annahmen gekommen – eine neue Theorie Einzug. Diese Theorie wird zunehmend zur Interpretation und Steuerung experimenteller und theoretischer Studien herangezogen und findet ihren Weg in viele andere Bereiche der Geistesforschung. Es handelt sich um die Theorie, dass das Gehirn ein hochentwickelter Mechanismus zur Überprüfung von Hypothesen ist, der ständig damit beschäftigt ist, den Fehler seiner Vorhersagen über den sensorischen Input, den er von der Welt erhält, zu minimieren. Dieser Mechanismus soll Wahrnehmen und Handeln und alles Geistige dazwischen erklären. Es ist eine attraktive Theorie, weil sie durch starke theoretische Argumente gestützt wird. Sie ist auch deshalb attraktiv, weil immer mehr empirische Beweise für sie sprechen. Sie hat eine enorme vereinheitlichende Kraft und kann doch auch im Detail erklären, wie man sich Wahrnehmung, Handlung, Aufmerksamkeit und andere zentrale Aspekte des Geistes vorstellen sollte.
Schon seit längerem ist bekannt, dass Wahrnehmung ein konstruktiver Prozess ist, bei dem das Gehirn nicht nur aktiv ein Abbild seiner Umwelt auf der Basis von eingehenden Sinneseindrücken erstellt, sondern dass das Gehirn Regelmäßigkeiten extrapoliert, um eine Vorhersage über zukünftige Reize zu erstellen. Diese Vorhersagen zukünftiger Sinneseindrücke auf der Grundlage vergangener sensorischer Informationen sind für Organismen unerlässlich, um ihr Verhalten in dynamischen Umgebungen effektiv anzupassen. Damit diese Vorhersagen aktuell und präzise sind, müssen sie auf kürzlich zurückliegenden sensorischen Reizen beruhen.
Die bewusste Wahrnehmung aktualisiert die Sinneseindrücke von Veränderungen in unserer Umwelt auch nicht kontinuierlich, sondern im Takt von Gehirnströmen, wobei dies nicht kontinuierlich erfolgt, obwohl die bewusste Wahrnehmung subjektiv nahtlos erscheint. Baumgarten et al. (2015) konnten nachweisen, dass das Gehirn nicht wie bisher angenommen seine Umwelt kontinuierlich abbildet, sondern diese aus vielen verschiedenen Einzelaufnahmen zusammensetzt, während man bisher davon ausging, dass der Mensch seine Umwelt fließend und ohne Unterbrechung wahrnimmt. Die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass das Gehirn die Umwelt in aufeinanderfolgende Zeitfenster zerlegt und diese dann zu einem Ganzen zusammensetzt.
Baumgarten et al. (2021) haben des Weiteren untersucht, wie das Gehirn eine effektive Vorhersage trotz enormer Variationen der sensorischen Eingangsrate erreicht, die sich direkt darauf auswirken, wie schnell sensorische Informationen akkumuliert werden können. Sie haben dabei zwei Hypothesen überprüft: Stützt das Gehirn seine Vorhersage zukünftiger Reize auf eine fixe Zeitdauer, z.B. die letzten 30 Sekunden einer Tonfolge, oder auf eine konstante Anzahl an Informationen, z.B. die letzten fünf Töne der Tonfolge? In der gegenständlichen Untersuchung präsentierte man den Probanden akustische Sequenzen, die zeitliche statistische Regelmäßigkeiten, wie sie in der Natur vorkommen, enthalten, und untersuchten die neuronalen Mechanismen – die Gehirnaktivität wurde mittels Magnetoenzephalographie gemessen -, die der prädiktiven Berechnung zugrunde liegen. Indem man die Präsentationsgeschwindigkeit der Sequenzen parametrisch manipulierte, konnte man zeigen, dass bei halbierten und verdoppelten Präsentationsgeschwindigkeiten die Vorhersageinformation in der neuronalen Aktivität aus der Integration über feste Informationsmengen stammt. Das Gehirn achtet daher eher auf die Anzahl zurückliegender Reize, als auf eine Zeitdauer, um vorherzusagen, was als nächstes passieren wird.
Dabei handelt es sich offenbar um eine fundamentale Funktion menschlicher Wahrnehmung, die es dem Menschen ermöglicht, dynamische Reize in natürlicher Umgebung trotz großer Variationen der sensorischen Eingangsrate sicher vorherzusagen.
Literatur
Baumgarten, Thomas J., Maniscalco, Brian, Lee, Jennifer L., Flounders, Matthew W., Abry, Patrice & He, Biyu J. (2021). Neural integration underlying naturalistic prediction flexibly adapts to varying sensory input rate. Nature Communications, 12, doi:10.1038/s41467-021-22632-z.
Baumgarten, T. J., Schnitzler, A. & Lange, J. (2015). Beta oscillations define discrete perceptual cycles in the somatosensory domain. Proceedings of the National Academy of Sciences.