Die Gehirne des modernen Menschen unterscheiden sich von denen der Menschenaffen in Größe, Form und cortikaler Organisation, insbesondere in den Frontallappenbereichen, die an komplexen kognitiven Aufgaben wie sozialer Wahrnehmung, Werkzeuggebrauch und Sprache beteiligt sind. Sie gingen bereits aufrecht, aber ihre Gehirne waren nur halb so groß wie die heutiger Menschen, d. h., diese frühsten Homo-Populationen in Afrika hatten ursprüngliche, menschenaffenähnliche Gehirne, und zwar genau wie die Australopithecinen. Wann diese Unterschiede während der menschlichen Evolution entstanden sind, ist eine Frage, die immer wieder diskutiert wird. Menschliche Gehirne sind daher bekanntlich größer und strukturell anders als die Gehirne der Menschenaffen. Die einstige Struktur von Gehirnen erschliesst sich nur aus Abdrücken, die die Gehirnwindungen und -furchen auf der Innenfläche fossiler Schädel hinterlassen haben, doch da diese Abdrücke individuell stark variieren, war es bisher nicht möglich, eindeutig festzustellen, ob ein bestimmtes Homo-Fossil ein eher menschenaffen- oder eher menschenähnliches Gehirn hatte. Durch computertomografische Analysen und den Vergleich der Darstellungen der inneren Oberfläche fossiler Hirnhüllen von frühen Homo aus Afrika, Georgien und Südostasien konnte man zeigen, dass diese strukturellen Innovationen später als die erste Ausbreitung der Gattung aus Afrika entstanden und wahrscheinlich vor 1,7 bis 1,5 Millionen Jahren vorhanden waren. Die moderne menschenähnliche Gehirnorganisation entstand also in Gehirnregionen, von denen man annimmt, dass sie mit der Herstellung von Werkzeugen, sozialer Kognition und Sprache zusammenhängen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Reorganisation des Gehirns keine Voraussetzung für die Ausbreitung aus Afrika war und dass es mehr als eine weiträumige Ausbreitung des frühen Homos gegeben haben könnte.
Ponce de León et al. (2021) konnten nun zeigen, dass die Gehirne des frühen Homo aus Afrika und Westasien eine primitive, affenähnliche Organisation des Frontallappens beibehalten haben. Im Gegensatz dazu wiesen der afrikanische Homo, der jünger als 1,5 Millionen Jahre ist, sowie der gesamte südostasiatische Homo erectus eine abgeleitete, menschenähnliche Gehirnorganisation auf. Die Reorganisation des Frontallappens, die einst als Kennzeichen des frühesten Homo in Afrika galt, entwickelte sich also vergleichsweise spät und lange nach der ersten Ausbreitung des Homo aus Afrika.
Literatur
Ponce de León, Marcia S., Bienvenu, Thibault, Marom, Assaf, Engel, Silvano, Tafforeau, Paul, Alatorre Warren, José Luis, Lordkipanidze, David, Kurniawan, Iwan, Murti, Delta Bayu, Suriyanto, Rusyad Adi, Koesbardiati, Toetik & Zollikofer, Christoph P. E. (2021). The primitive brain of early Homo. Science, 372, 165-171.