Die Existenz evolutionär konservierter Regionen im Gehirn von Wirbeltieren ist gut belegt, wobei aber die Regeln und Zwänge, die der Evolution der Neuronentypen zugrunde liegen, jedoch nach wie vor nur unzureichend bekannt sind. Neuronen sind die vielfältigsten Zelltypen im Körper, wobei ihre evolutionäre Diversifizierung Veränderungen in den Entwicklungsprozessen widerspiegelt, die sie hervorbringen, was zu Veränderungen in neuronalen Schaltkreisen führen kann. So arbeiten verschiedene Hirnareale nicht isoliert, was darauf hindeutet, dass die Entwicklung von miteinander verbundenen Regionen korreliert sein könnten.
Um nun Neuronentypen über Hirnregionen und Spezies hinweg zu vergleichen, haben Hain et al. (2022) einen Zelltyp-Atlas des Gehirns einer Bartagame erstellt und ihn mit Mausdatensätzen verglichen. Anhand der Expression von Hunderten von Genen konnten konservierte Klassen von Neuronen, Transkriptionsfaktoren und Genen identifiziert werden, die an der Konnektivität beteiligt sind. Innerhalb dieser Klassen gibt es jedoch sowohl konservierte als auch abweichende Neuronentypen, was eine einfache Kategorisierung des Gehirns in angestammte und neue Bereiche nicht möglich macht. Im Thalamus korreliert die neuronale Diversifizierung mit der Entwicklung der Hirnrinde, was darauf hindeutet, dass der Entwicklungsursprung und die Zuweisung von Schaltkreisen die neuronale Identität und Evolution bestimmen. Obwohl Eidechsen und Säugetiere gemeinsame evolutionäre Wurzeln haben, haben sich ihre Entwicklungswege vor Hunderten von Millionen von Jahren getrennt.
Auch könnte sich bei Reptilien und Säugetieren ein Hirnbereich, der sich von einer gemeinsamen Vorgängerstruktur ableitet, so entwickelt haben, dass er in der einen Gruppe auch heute noch als Vorfahre gilt, während er in der anderen Gruppe modern ist. Umgekehrt könnte es sein, dass beide Kladen (Klade bezeichnet eine Gruppe oder geschlossene Abstammungsgemeinschaft, die den letzten gemeinsamen Vorfahren und alle seine Nachfahren enthält) heute eine Mischung aus gemeinsamen, d. h., alten, und spezifischen neuen Neuronentypen enthalten. Bestimmte neuronale Identitäten, die durch die von ihnen exprimierten Transkriptionsfaktoren gekennzeichnet sind, sind offenbar von der Eidechse bis zum Säugetier erhalten geblieben, während andere Anzeichen für evolutionäre Innovationen aufweisen. Das Säugetiergehirn ist also ein verwobenes Geflecht aus neuen und angestammten Spuren, d. h., es ist das Ergebnis paralleler Diversifizierungsprozesse, die von gemeinsamen Neuronenfamilien abstammen.
Literatur
Hain, David, Gallego-Flores, Tatiana, Klinkmann, Michaela, Macias, Angeles, Ciirdaeva, Elena, Arends, Anja, Thum, Christina, Tushev, Georgi, Kretschmer, Friedrich, Tosches, Maria Antonietta & Laurent, Gilles (2022). Molecular diversity and evolution of neuron types in the amniote brain. Science, 377, doi:10.1126/science.abp8202.
https://www.mpg.de/19162808/drachen-und-evolution-des-gehirns (22-09-03)