Menschen sind als Individuen über Gene und Gehirn nicht auf triviale Weise biologisch fremdgesteuert. An der Entstehung der unglaublichen Vielfalt an Persönlichkeiten, Einstellungen und Verhaltensneigungen mischen nicht nur die Gene und ihre Beeinflussung durch den Lebensstil etwa der Eltern mit, sondern wie Menschen in die Welt gehen, offen oder ängstlich, vertrauensvoll oder reserviert, hängt vor allem von der Qualität der Frühbetreuung ab und von den sozialen und gesellschaftlichen Einbettungen, und zwar lebenslang. Dieses komplexe Zusammenwirken der genetischen, epigenetischen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren in der Individualentwicklung begründet eine gar nicht zufällige Vielfalt an Verhalten und an Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese Mechanismen erklären auch das scheinbare Paradox, dass die heute fast acht Milliarden Menschen auf der Welt viel mehr miteinander gemeinsam haben, als sie kulturell zu trennen vermag, dass sie aber dennoch ebenso viele unverwechselbare Individuen bleiben – Einheit in Vielfalt, sozusagen.
Quelle
Kurt Kotrschal in Die Presse vom 17. Juli 2022