Man geht heute davon aus, dass Erfahrungen und Verhaltensweisen von Moment zu Moment durch biologische Prozesse in Gehirn und Körper hervorgebracht werden, wobei Emotionen letztlich erst durch das Gehirn gemacht werden, d. h., das Gehirn konstruiert letztlich auch diese. Dieser Ansatz wird seit längerem auch im Hinblick auf Erinnerungen und Wahrnehmungen vertreten.
Eine konstruktivistische Sicht auf Emotionen beruht zum einen darauf, dass eine emotionale Kategorie wie Wut oder Abscheu keinen physischen Fingerabdruck hat, denn eine Instanz von Wut muss sich nicht anfühlen wie eine andere oder ihr äußerlich ähneln und wird auch nicht von denselben Neuronen verursacht. Auch sind Gefühle, die man erlebt und wahrnimmt, nicht unvermeidliche Folge der genetischen Ausstattung eines Menschen, sondern komplexe Phänomene, die durch die Interaktion vieler Faktoren entstehen. Die Amygdala ist dabei eine wichtige Hirnregion für die Verarbeitung von Emotionen, denn sie ist für die Erkennung von Bedrohungen und die Einleitung einer Angstreaktion verantwortlich. Der Hippocampus ist für die Verarbeitung von Erinnerungen und die Bildung von neuen Erinnerungen verantwortlich, spielt aber auch eine bedeutsame Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen. Der präfrontale Cortex schließlich ist für die Steuerung von Emotionen und die Entscheidungsfindung, aber auch für die Regulation von Verhalten verantwortlich.
Der konstruktivistische Ansatz in Bezug auf Emotionen besagt letztlich, dass Emotionen nicht einfach angeborene und universelle Reaktionen auf bestimmte Reize sind, sondern dass sie vielmehr individuelle soziale Konstruktionen darstellen, die durch individuelle Erfahrungen, kulturelle Einflüsse und soziale Interaktionen geformt werden. Dieser Ansatz betont, dass Emotionen in erster Linie durch die Art und Weise entstehen, wie Menschen ihre Umwelt und sich selbst wahrnehmen, interpretieren und bewerten. Emotionen sind daher keine starren, angeborenen Reaktionen, sondern dynamische Phänomene, die durch die Interaktion von Individuum und Umwelt geformt werden. Einige Schlüsselkonzepte des konstruktivistischen Ansatzes:
Subjektive Konstruktion: Emotionen werden als subjektive Erfahrungen betrachtet, die individuell von Person zu Person variieren können. Die gleiche Situation kann bei verschiedenen Personen unterschiedliche emotionale Reaktionen hervorrufen, da sie von den individuellen Denkmustern, Überzeugungen und Wertvorstellungen beeinflusst werden.
Kultureller Einfluss: Kulturelle Normen, Werte und Ausdrucksregeln beeinflussen, welche Emotionen als angemessen oder unangemessen betrachtet werden und wie sie ausgedrückt werden sollten. Verschiedene Kulturen können unterschiedliche Gefühlswelten haben, die durch soziale Normen und Rituale geformt werden.
Sprache und Kommunikation: Sprache spielt eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Emotionen, da sie uns ermöglicht, unsere inneren Erfahrungen auszudrücken und zu teilen. Emotionale Ausdrücke und Empfindungen werden in sozialen Interaktionen durch Kommunikation und nonverbale Signale übertragen.
Interaktion und soziale Konstruktion: Emotionen entstehen auch durch soziale Interaktionen mit anderen Menschen. Die Reaktionen und Rückmeldungen, die wir von anderen erhalten, beeinflussen, wie wir unsere Emotionen interpretieren und ausdrücken.
Kontextuelle Einbettung: Emotionen werden im Kontext der jeweiligen Situation und der individuellen Erfahrung interpretiert und verstanden. Die gleiche Situation kann unterschiedliche emotionale Reaktionen hervorrufen, je nachdem, wie sie vom Einzelnen wahrgenommen und bewertet wird.
In ihrem Buch „Wie Gefühle entstehen“ argumentiert die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett, dass Gefühle nicht einfach von unseren Körpern oder unserer Umwelt diktiert werden, sondern vielmehr das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen diesen Faktoren und unserer subjektiven Erfahrung sind. Gefühle sind daher keine „inneren Zustände“ , sondern eine „Beschreibung der eigenen Erfahrungen“. Menschen können unterschiedliche Gefühle für dieselben körperlichen Empfindungen haben, je nachdem, wie sie diese Empfindungen interpretieren, wobei Gefühle auch durch Erwartungen und Vorurteile beeinflusst werden. Man sollte Gefühle daher nicht als etwas betrachten, das einem passiert, sondern als etwas, das man aktiv gestalten kann, besonders auch deshalb, da Gefühle nicht immer zuverlässige Indikatoren für die innere Realität sind. Hier sind einige der Kernaussagen von Barretts Buch:
- Gefühle sind keine inneren Zustände, sondern Beschreibungen der eigenen Erfahrungen.
- Gefühle werden von einer komplexen Interaktion zwischen dem eigenen Körper, der Umwelt und der subjektiven Erfahrung beeinflusst.
- Gefühle können durch unsere Erwartungen und Vorurteile beeinflusst werden.
- Man kann seine Gefühle aktiv gestalten.
- Gefühle sind nicht immer zuverlässige Indikatoren für die innere Realität.