Fritz Breithaupt postuliert in seinem Buch „Das narrative Gehirn – Von der Lust und Gefährlichkeit des Erzählens„, dass narratives Denken stets mit spezifischen Emotionen belohnt wird. Narrative spielen in aktuellen Diskursen eine große Rolle, d. h., in immer mehr Bereichen ist von Narrationen oder Narrativen bzw. von Erzählungen die Rede. So soll etwa Politik heute mit den richtigen Narrativen überzeugen oder banale Produkte werden mit einer Erzählung von Freiheit, Abenteuer, Individualität etc. ausgestattet. Doch nicht alles, was heutzutage Narrativ genannt wird, ist auch ein Narrativ, denn wenn PR-Abteilungen von Politikern oder Marketingabteilungen sagen, „Wir brauchen ein besseres Narrativ“, dann meinen sie eigentlich nur einen besseren Slogan. Ein echtes Narrativ ist etwas komplizierter, denn das ist etwas, was wirklich gebraucht wird und das Menschen helfen kann, mit einer Situation fertig zu werden.
Menschen sind narrative Wesen, d. h., sie denken und leben in Geschichten, denn das erlaubt es ihnen, sich aus dem einen Moment der Gegenwart abzulösen, d. h., Menschen sitzen nicht nur irgendwo, an einem Kaffeetisch oder auf einem Bürostuhl oder im Auto, sondern sie können dabei in eine Geschichte eintauchen, was ihnen auch erlaubt, in andere Lebewesen einzutauchen, also Empathie zu empfinden. Geschichten sind dann Emotionsepisoden, und die damit verbundenen Emotionen belohnen die Menschen, indem sie sich aus der u. U. banalen Gegenwart lösen. Dass Gefühle bei Geschichten eine wichtige Rolle spielen, macht sie mächtig, und zwar im Positiven wie auch im Negativen, wenn es etwa um Manipulation geht. So entstand in der Wirtschaftskrise 2008, als viele Menschen ihre Positionen, ihre Sicherheiten, ihren Lebensstandard verloren, und eine ungeheure Unsicherheit herrschte, das Narrativ, dass die Schuldigen ausgemacht wurden: die gierigen Banker aus Amerika, die leichtfertig Kredite ausgegeben hatten, sich dadurch bereichert hatten und die man jetzt bloßstellte. Und dieses Gaunernarrativ hatte natürlich allen auch irgendwie geholfen und besaß eine therapeutische Wirkung, um diese Krise mit zu überwinden, weil man wusste, da gibt es Schuldige an der aktuellen Situation. Als Satisfaktion gab es die Emotion zur Belohnung, dass man letztlich nicht selber schuld war, sondern dass andere daran schuld waren.
Doch kollektive Narrative können auch Schattenseiten haben, denn das Narrativ, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und andere aufgebaut haben, der Helden, von David, der gegen Goliath kämpft, ist anfangs erst einmal wirkungsvoll gewesen und hat die eigene Bevölkerung zum Widerstand animiert bzw. andere Länder zur Unterstützung motiviert, doch kann dieses Helden-Narrativ, das letztlich nur im Triumph, also dem Sieg über Russland enden kann, im Weg stehen, wenn es zu einem Stellungskrieg kommen sollte, der nur am Verhandlungstisch gelöst werden kann. Kollektive Narrative können daher auch gefährlich sein und Menschen in die Irre führen bzw. langfristig mehr Probleme machen.