Das Pilgern oder Weitwandern, d.h. lange Wanderungen innerhalb kurzer Zeit, dient vielen Menschen als Übergangsritus in Lebenskrisen. Zu diesem Zweck verlassen viele Menschen jedes Jahr für einige Zeit ihr Zuhause, um sich mit einem Minimum an Gepäck auf eine lange, beschwerliche Pilgerreise zu begeben. Obwohl die kirchliche Bindung in der Bevölkerung schwächer wird, erlebt diese alte religiöse Praxis des Pilgerns eine Renaissance. Am deutlichsten wird dies am Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien, aber neben einem Netz von Jakobswegen, die quer durch Europa führen und in Santiago enden, erfreuen sich auch andere Pilgerwege in Europa zunehmender Beliebtheit, wie der Olavsweg von Oslo nach Trondheim oder der Franziskusweg, der durch die Toskana und Umbrien nach Rom führt.
Weitwandern ist vor allem gut für die Psyche, denn Schritt für Schritt, oft über mehrere hundert Kilometer, ist ein monotoner Ausgleich für eine hektische Zeit, eine Flucht aus der Komplexität des Alltags, oft auf der Suche nach sich selbst oder nach etwas Höherem, Spirituellem.
Diese Form des Gehens findet in der Regel im aeroben Bereich statt, d.h. es ist genügend Sauerstoff vorhanden. Je nach Alter und Gesundheitszustand kann jeder sein eigenes Tempo, die Tagesdistanz und die Dauer seiner Wanderung festlegen, jedoch sollte man sich vor einer solchen geplanten Langstreckenwanderung ärztlich untersuchen lassen, da unerkannte Infektionen oder Viruserkrankungen bei Dauerbelastung den Herzmuskel angreifen können. Nicht zu unterschätzen sind auch mögliche Gelenküberlastungen, vor allem bei Vorschädigungen, wobei Knie, Achillessehne und Rücken naturgemäß zu den am stärksten belasteten Körperteilen gehören. Deshalb sollte man einen solchen Gewaltmarsch nie unvorbereitet angehen. Vorbereitung heißt aber auch, sich Gedanken über das Motiv und die Erwartungen zu machen. Oft sind die Erwartungen jedoch zu hoch gesteckt, vor allem dann, wenn man eine Wanderung in der Hoffnung antritt, dass sie alle Probleme löst, die sich über Jahrzehnte angesammelt haben. Viele Menschen begeben sich genau einmal im Leben auf eine solche Mega-Wanderung und wissen nicht, was sie erwartet. Neben der körperlichen Anstrengung können Ängste aufkommen, depressive Stimmungen entstehen. Man ist plötzlich aus dem Alltag herausgerissen und ganz allein, denn man hat stundenlang Zeit, an sich selbst zu denken. Die Erfahrung zeigt, dass manche Menschen, wenn sie mit sich selbst konfrontiert werden, damit nicht zurechtkommen und sich ihr Gemütszustand in eine negative Richtung entwickelt. Sie erkennen, was in ihrem Leben schief läuft, was zu einem Motivationsabfall führen kann, der möglicherweise zum Abbruch der Wanderung führt. Deshalb sollte man sich nicht ausschließlich auf das Ziel konzentrieren, sondern auf den Weg, den Prozess, d.h. kleine Pläne machen, z.B. im Voraus überlegen, was passiert, wenn der innere Schweinehund aufgeben will, wenn der Körper, das Wetter oder etwas anderes die Wanderpläne durchkreuzen könnte.
Literatur
https://www.spektrum.de/news/pilgern-zu-fuss-zu-innerer-klarheit-finden/2020870 (22-08-14)
https://www.weitwanderwege.com/weitwandern-pilgern-gesundheit/ (22-08-14)