Im Deutschen unterscheidet man zwischen Erinnerung und Gedächtnis, d. h., die Memoria wird aufgespalten in das, was man besitzt, also das Gedächtnis, und das, was man tut, also sich erinnern. Ausgangspunkt für die Erinnerung sind Erfahrungen, die sich auf Vergangenes, aber auch auf Künftiges beziehen kann, denn in einer Erfahrung steckt immer auch unabgegoltene Zukunft.
Die eigene Erfahrung prägt dabei die Deutung der Vergangenheit und bestimmt so zugleich die Antizipation künftiger Ereignisse, wobei diese Dynamik in Umbruchszeiten, in denen der gewohnte persönliche wie der soziale Bezugsrahmen verloren geht, zu einer massiven Verformung der Erinnerung führen kann. Menschen können sich dabei also daran erinnern, dass sie sich erinnern und können auf Erinnertes gezielt zugreifen. Die Entwicklung der Schriftkultur hat es zudem möglich gemacht, große Teile des Erinnerten aus dem Gehirn auszulagern und zu speichern, doch auch in der Vorgeschichte, der schriftlosen Phase der Menschheitsgeschichte, hatten Gemeinschaften ein Gedächtnis, aber sie verfügten nicht über Speichermedien. Das Gedächtnis war noch weitgehend ungeformt, stützte sich auf mündlich überlieferte Mythen und Erzählungen und reichte über allenfalls drei Generationen. Eine Gemeinschaft von drei Generationen war lange Zeit typisch für den familialen Verband, und erst durch die Schriftlichkeit konnten Gemeinschaften diese Grenze überwinden und ein alltagsfernes und kodifiziertes kulturelles Gedächtnis ausbilden. Das Schriftzeichen entlastet das kollektive Gedächtnis, denn woran man sich nicht permanent erinnern will, das schreibt man auf, deponiert es auf Steinen, Tonscherben, Tierhäuten oder Papyri. Etwas aufzuschreiben, ist eine schonende, weil nur als vorläufig empfundene und wiedergutzumachende Methode des Beiseitestellens, Abschiebens und Vergessens. Wer den Namen des Toten auf einen Grabstein ritzt, dem spukt er nicht mehr permanent im Kopf herum, schon das Material des Steins scheint die Dauer des Namens besser zu verbürgen als das vergängliche Bewusstsein der Überlebenden. Die Schrift ist ein Speicher für Namen, an die sich keine Bilder mehr heften. Das betrifft zumindest die registrierenden Gattungen der Schrift, die sich auf Urkunden, Grabsteinen, Rechnungen und Botschaften finden. Die in Schriftform überlieferte Poesie und andere literarische Gattungen übernehmen in verwandelter Form die Funktion der oral überlieferten Mythen, mit denen Personen über die Beschränkung von Zeit und Raum in das kollektive Gedächtnis einer Kultur eingeprägt wurden.
Jede Generation hat dabei ein anderes Bild von dem, was war, denn die Vergangenheit ist nichts per se Existierendes, sie wird vielmehr von jeder Generation neu geschaffen. Was dann nach langen Jahrzehnten der stets sich wandelnden Erinnerung einsinkt in den Kanon des kulturellen Gedächtnisses wird zur absoluten Vergangenheit, wobei auch diese noch Wandlungen, wenn auch sehr viel langfristigeren unterliegt. Das kulturelle Gedächtnis manifestiert sich in tradierten Riten und Festen, in einem Kanon grundlegender Texte, die mit Hilfe stabiler Medien überliefert und von Schriftgelehrten verwaltet werden. Die Bibel und der Koran sind vielleicht die berühmtesten Beispiele. Das kollektive Gedächtnis ist eine Sache weniger Generationen, das kulturelle Gedächtnis hat einen ungleich größeren Zeitrahmen, der unter Umständen mehrere Jahrtausende umfassen kann (Piper 2022).
Anmerkung: Der Begriff Memoria stammt aus der Rhetorik und bezeichnet das Einprägen der Rede für das auswendige Vortragen, meist Auswendiglernen mittels Mnemonik etwa durch bildliche Vorstellungen.
Siehe dazu auch Ars memorandi- Gedächtnistraining im Mittelalters.
Literatur
Piper, Ernst (2022). Woran wir uns erinnern, wenn wir uns erinnern.
WWW: https://www.heise.de/tp/features/Woran-wir-uns-erinnern-wenn-wir-uns-erinnern-7078673.html (22-05-08)
Stangl, W. (2014, 30. Oktober). Ars memorandi- Gedächtnistraining im Mittelalters. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNTECHNIK/Matthaeus.shtml