Der Kuss ist ein universelles menschliches Phänomen, das tief in unserer Evolution verwurzelt ist. Obwohl das genaue Entstehen des Küssens in den Nebeln der Vergangenheit liegt, lassen sich einige Theorien und Erkenntnisse über die Entwicklung dieser intimen Geste ableiten. Aus der Beobachtung vieler unterschiedlicher Kulturen auf der Welt wird deutlich: Rund 90 Prozent aller Menschen küssen sich. Das legt die Vermutung nahe, dass diese Praxis auch schon bei unseren steinzeitlichen Vorfahren existiert haben könnte. Allerdings gibt es auch heute noch Ausnahmen von dieser Regel. So gilt das Küssen auf den Mund in einigen Regionen Chinas als „abscheulich“ und wird sogar mit Kannibalismus in Verbindung gebracht. Auch in Finnland und der Mongolei zeigen Menschen ihre Zuneigung auf andere Weise, ohne den Lippenkontakt zu nutzen. Trotz dieser kulturellen Unterschiede scheint das Küssen ein tief verwurzelter, angeborener Instinkt zu sein. Drei Theorien versuchen, den Ursprung dieser Geste zu erklären:
- Sigmund Freud sah den Wunsch zu küssen im Bedürfnis des Säuglings verwurzelt, von seiner Mutter gestillt zu werden. Der Kuss könnte also eine Weiterentwicklung dieses Verhaltens sein.
- Eine andere Theorie besagt, dass das Küssen vom uralten Verhalten stammt, sich gegenseitig von Mund zu Mund zu füttern. Diese Praxis ist bis heute in einigen afrikanischen Kulturen sowie unter Primaten verbreitet.
- Darüber hinaus wird auch diskutiert, ob der Kuss eine Weiterentwicklung des Schnüffelns und Witterns von Pheromonen sein könnte, wie es viele Tiere praktizieren. Der Kuss könnte so eine Möglichkeit darstellen, den Partner genauer kennenzulernen und anzuziehen.
Letztlich bleibt der genaue Ursprung des Küssens in den Tiefen der menschlichen Evolution verborgen. Doch die Universalität dieser Geste sowie die verschiedenen Theorien zu ihrer Entstehung zeigen, wie tief verwurzelt das Küssen im menschlichen Verhalten ist.
Die derzeit vielleicht anerkannteste Vermutung zu den Ursprüngen des Küssens besagt, dass es ein Überbleibsel der Fellpflege unserer noch ganzkörper-behaarten Vorfahren ist. Schon Schimpansen und Bonobos zeigen dieses Verhalten, indem sie sich nach dem gegenseitigen Entfernen von Hautschuppen und Parasiten aus dem Fell eine Art „letztes Küsschen“ geben. Diese Praxis diente wohl nicht nur der Körperpflege, sondern förderte auch den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Im Lauf der Evolution hat sich das Küssen gegenüber dem Nicht-Küssen letztendlich durchgesetzt – vermutlich aufgrund seiner positiven Auswirkungen auf das Immunsystem. Durch den Kontakt mit den Bakterien des Küsspartners immunisiert sich der Körper und wird widerstandsfähiger gegen Krankheiten. Gleichzeitig wird beim Küssen das „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet, das zwischenmenschliche Bindungen stärkt und für Glücksgefühle sorgt. Außerdem sinkt der Stresshormon-Spiegel, was zu mehr Entspannung führt. Heute ist Küssen in den meisten Kulturen eine weit verbreitete Praxis – doch das war nicht immer so. Noch vor 20 Jahren galt öffentliches Küssen in Großbritannien als undenkbar, wie die Journalistin Adrianne Blue berichtet, die 1992 ein Buch über das Thema verfasste. Doch die Globalisierung hat zu einer zunehmenden Verbreitung des Küssens geführt. Blue vermutet, dass sich die küssenden 90 Prozent gegenüber den verbliebenen Nicht-Küssern durchsetzen werden. Die Faszination, die vom Küssen ausgeht, ist also keineswegs auf den individuellen, physiologischen Effekt beschränkt, vielmehr spiegelt sie auch den evolutionären Wandel wider, den das Verhalten in der Menschheitsgeschichte durchlaufen hat. Das Küssen erweist sich dabei als ein immer wichtiger werdendes Element zwischenmenschlicher Kommunikation und sozialer Bindung.
Stangl, W. (2017, 26. November). Die Wissenschaft vom Küssen. arbeitsblätter news.
https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/die-wissenschaft-vom-kuessen/.