Für den Menschen zeigt sich die subjektive Zeiterfahrung vor allem im Phänomen des Erinnerns und Vergessens. Das, was wir einmal gewusst und gekonnt haben, wird uns im Vergessen als ein Entzug der Zeit erfahren. Das Vergessene ist dabei nicht vollständig aus unserem Bewusstsein verschwunden, sondern kann unter bestimmten Umständen, etwa wenn es uns auf der Zunge liegt, wieder erinnert und abgerufen werden. Das Vergessen und ebenso die Wiedererinnerung daran stehen allerdings nicht unter unserer willentlichen Kontrolle, wie schon Nietzsche erkannt hat, sondern werden vielmehr von einer Vernunft des Leibes bestimmt, die sich unserer bewussten Steuerung entzieht.
Dabei kann das Erinnern und Gedächtnis durchaus auch zur Last werden und unser Handeln behindern. Denn die Vergangenheit legt sich oft schwer auf die Gegenwart und verstellt den Blick auf neue Möglichkeiten. Deshalb ist das Vergessen, die Fähigkeit zum Loslassen des Gewesenen, auch eine wichtige Voraussetzung für eine tatkräftige und unvoreingenommene Zukunftsgestaltung. Nur wer sich von der Bürde der Vergangenheit befreien kann, vermag sich voll und ganz auf die Herausforderungen der Gegenwart einzulassen und neue Wege zu beschreiten.
Das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen ist somit ein zentraler Aspekt der menschlichen Zeiterfahrung. Es offenbart nicht nur die Grenzen unserer kognitiven Kontrolle, sondern verweist auch auf die Notwendigkeit, uns immer wieder von der Vergangenheit zu lösen, um handlungsfähig in die Zukunft blicken zu können. In diesem Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Vergessen konstituiert sich letztlich unser Selbstverständnis als zeitliche Wesen.
Stangl, W. (2011, 18. Februar). Subjektives Zeitparadoxon. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/14659/subjektives-zeitparadoxon