Lange galt die Annahme, dass das Gehirn sämtliche Phasen des Sexualakts steuert, während das Rückenmark lediglich den abschließenden Ejakulationsreflex auslöst. Neue Forschungen an Mäusen widerlegen dieses einfache Modell, denn sie zeigen, dass das Rückenmark nicht nur passiv Befehle empfängt, sondern aktiv an Erregung, Paarung und Ejakulation beteiligt ist.
Man konnte in Studien nachweisen, dass spezifische Nervenzellen im Rückenmark – Gal⁺-Neuronen – entscheidend für den Ablauf des männlichen Sexualverhaltens sind. Diese Zellen stehen in direkter Verbindung mit den Motoneuronen, die den Musculus bulbospongiosus steuern, also jenen Muskel, der für den Samenerguss zentral ist. Durch genetische Markierungen und elektrophysiologische Messungen wurde gezeigt, dass die Aktivierung der Gal⁺-Neuronen über glutamaterge Signale Kontraktionen dieses Muskels auslösen kann.
Optogenetische und elektrische Stimulationen dieser Nervenzellen führten bei Mäusen zu Muskelaktivität, jedoch nicht immer zu vollständiger Ejakulation. Zudem nahm die Reaktion bei wiederholter Stimulation ab, was auf eine Refraktärphase hinweist. Experimente an Tieren mit durchtrennten Nervenbahnen zwischen Gehirn und Rückenmark zeigten, dass sensorische Signale aus den Geschlechtsorganen direkt die Gal⁺- und Motoneuronen aktivieren können – unabhängig vom Gehirn. Gleichzeitig deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass das Gehirn normalerweise eine hemmende Wirkung ausübt und den Rückenmarksschaltkreis erst dann freigibt, wenn die Bedingungen für die Ejakulation erfüllt sind.
Wurden die Gal⁺-Neuronen ausgeschaltet, zeigten die Tiere deutliche Verhaltensänderungen: verzögerte oder fehlgeschlagene Paarungen und gestörte rhythmische Abläufe. Diese Beobachtungen legen nahe, dass das Rückenmark weit mehr als ein Reflexzentrum ist. Es verarbeitet sensorische und interne Signale, reagiert flexibel auf Erregungszustände und spielt damit eine aktive Rolle im gesamten Sexualverhalten.
Das Rückenmark agiert beim Geschlechtsakt nicht als bloßer Befehlsempfänger des Gehirns, sondern als komplexer Integrator, der auf Grundlage vielfältiger Informationen mitbestimmt, wann und wie der Sexualakt abläuft.