Obwohl das Gehirn sowohl für Mensch als auch für Tier von so zentraler Bedeutung ist, sind seine Ursprünge nach wie vor nicht geklärt. Die ersten Tiergehirne entstanden vor hunderten von Millionen Jahren, wobei heute nur noch die primitivsten Tierarten, wie etwa Wasserschwämme, kein Gehirn besitzen. Nach einer Studie könnten aber gerade Schwämme zur Entschlüsselung der Geheimnisse rund um die Entstehung von Neuronen und Gehirnen liefern. Zwar besitzen Schwämme keine Synapsen, doch ihr Genom kodiert dennoch viele der synaptischen Gene, die an der neuronalen Funktion bei höheren Tieren beteiligt sind. Um die Rolle der Gene in Schwämmen zu untersuchen, wandte man im Süßwasserschwamm Spongilla lacustris mikrofluidische und genomische Technologien an, mit deren Hilfe man einzelne Zellen von mehreren Schwämmen in Tröpfchen einfing und ein Profil der genetischen Aktivität jeder Zelle erstellte. Es zeigte sich, dass bestimmte Zellen in den Verdauungskammern der Schwämme diese Gene aktivieren, d. h., selbst bei diesen einfachen Tieren ohne Synapsen sind sie also in bestimmten Teilen des Körpers aktiv. Schwämme nutzen ihre Verdauungskammern, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern und mit Mikroben in der Umgebung zu interagieren. Als man durch die Kombination von Elektronenmikroskop und Röntgenbildgebung das Verhalten der Zellen visualisierte, bildeten Zellen lange Arme aus, um bakteriellen Eindringlinge zu beseitigen. Dieses Verhalten schaffte dabei eine Schnittstelle für eine gezielte Zell-Zell-Kommunikation, wie sie auch über Synapsen zwischen Nervenzellen im Gehirn von Tieren stattfindet. Möglicherweise sind solche Zellen, die die Nahrungsaufnahme regulieren und die mikrobielle Umgebung kontrollieren, evolutionäre Vorläufer der ersten tierischen Gehirne.
Literatur
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