Vor 540 bis 500 Millionen Jahre entstanden bei der Kambrischen Artenexplosion fast alle heute existierenden Tierstämme, und schon früh tauchten die Lobopoden auf, eine Gruppe gepanzerter Meerestiere, die sich wahrscheinlich mit mehreren Paaren weicher, ungelenkiger Gliedmaßen auf dem Meeresboden fortbewegten. Unter den Fossilien dieser ausgestorbenen Gliederfüßer befindet sich auch ein 1984 entdecktes, etwa 1,5 Zentimeter langes Fossil eines Lobopoden, dessen Nervensystem, einschließlich des Gehirns in seiner Feinstruktur erhalten geblieben ist. Es zeigt einen unsegmentierten Kopf und ein Gehirn, das aus drei cephalen Bereichen besteht, die sich von dem metameren ventralen Nervensystem unterscheiden, das dem appendikulären Rumpf dient. Morphologische Übereinstimmungen mit Arthropoden der Stammgruppe und die Angleichung homologer Genexpressionsmuster an die von lebenden Panarthropoden zeigen, dass die kephalen Domänen dieses Gliederfüßlers der Evolution des euarthropoden Kopfes vorausgehen und dennoch den Neuromeren entsprechen, die die Gehirne lebender Cheliceren und Mandibulaten definieren. Die vorherrschende Meinung war ja bisher, dass das Gehirn der Euarthropoden teilweise aus Ganglien bestand, die aus dem ventralen Nervensystem stammten.
Man verglich das neu beschriebene Urzeit-Gehirn mit den Gehirnen weiterer bekannter Fossilien und heute lebender Gliederfüßer, darunter Spinnen und Tausendfüßer, bzw. analysierte man bei den heute lebenden Vertretern die Genexpressionsmuster, die für den Bauplan des Gehirns verantwortlich sind. Durch den Vergleich bekannter Genexpressionsmuster in lebenden Arten konnten Strausfield et al. (2022) eine gemeinsame Signatur aller Gehirne und ihrer Entstehung identifizieren. Dadurch fand man bei dem Gliederfüßer drei Gehirnbereiche, die jeweils mit einem Paar von Kopfanhängseln sowie mit einem der drei Teile des vorderen Verdauungssystems verbunden sind. Dabei wird jeder Bereich des Gehirns und die entsprechenden Merkmale durch dieselbe Kombination von Genen spezifiziert, unabhängig von der untersuchten Spezies. Dies deutet auf einen gemeinsamen genetischen Grundplan für die Entstehung eines Gehirns hin. Strausfield et al. (2022) stellten nun fest, dass das Gehirn bereits vor der Entwicklung des Kopfes in drei getrennte zerebrale Komponenten unterteilt war, was den Schluss zulässt, dass sich das Gehirn und das Nervensystem des Rumpfes wahrscheinlich getrennt entwickelt haben.
Literatur
Strausfeld, Nicholas J., Hou, Xianguang, Sayre, Marcel E. & Hirth, Frank (2022). The lower Cambrian lobopodian Cardiodictyon resolves the origin of euarthropod brains. Science, 378, doi:10.1126/science.abn6264.