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Die Rolle der basolateralen Amygdala beim menschlichen Sozialverhalten

    Das menschliche Sozialverhalten ist nach neuesten Untersuchungen nicht allein durch Erziehung, kulturelle Prägung oder individuelle Erfahrungen bestimmt, sondern tief im Gehirn verankert. Erkenntnisse der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung legen nahe, dass eine spezifische Hirnregion – die basolaterale Amygdala (BLA) – eine entscheidende Rolle bei der Kalibrierung prosozialen Verhaltens spielt. Diese Region, ein Teil des limbischen Systems, wirkt wie ein neuronaler Regler, der unsere Bereitschaft zur Großzügigkeit in Abhängigkeit von der emotionalen Nähe zu anderen Menschen steuert. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel liefert eine Studie von Kalenscher et al. (2025), in der Personen mit dem äußerst seltenen Urbach-Wiethe-Syndrom (UWD) untersucht wurden – eine genetisch bedingte Erkrankung, bei der unter anderem die BLA bilateral beschädigt ist.

    Im Rahmen eines modifizierten Diktatorspiels wurden fünf UWD-Patientinnen mit einer Kontrollgruppe von sechzehn gesunden Personen verglichen. Den Teilnehmenden wurde ein Geldbetrag zur Verfügung gestellt, den sie an acht Personen aus ihrem sozialen Umfeld verteilen sollten. Die Auswahl dieser Personen erfolgte entlang einer Skala sozialer Distanz – von engen Freunden bis hin zu völlig Fremden. Während die Kontrollgruppe eine abnehmende, aber weiterhin vorhandene Großzügigkeit mit zunehmender sozialer Distanz zeigte, waren die Probandinnen mit BLA-Schädigung lediglich gegenüber nahestehenden Personen ähnlich großzügig wie die Kontrollgruppe. Bei allen anderen sozialen Kategorien zeigte sich ein signifikant egoistischeres Verhalten. Diese steilere soziale Abwertung – im Englischen als „steeper social discounting“ bezeichnet – verweist auf eine gestörte Fähigkeit, empathische Impulse gegenüber weniger vertrauten Personen zu empfinden und altruistisches Verhalten situationsangepasst zu modulieren (Kalenscher et al., 2025). Diese Unterschiede waren dabei nicht auf Defizite in Empathie, Persönlichkeit oder der Größe des sozialen Netzwerks zurückzuführen, vielmehr deuteten die Daten darauf hin, dass die BLA eine zentrale Rolle bei der Abwägung egoistischer und altruistischer Handlungsmotive spielt. Sie ist demnach nicht notwendig für das generelle Auftreten von prosozialem Verhalten – also der grundsätzlichen Bereitschaft, mit anderen zu teilen oder zu helfen –, sondern für dessen Feinjustierung abhängig von der sozialen Beziehung zum Gegenüber. Ohne die BLA fällt es dem Gehirn schwerer, situationsspezifisch zwischen Selbstinteresse und Mitgefühl zu vermitteln. Diese Erkenntnis verortet die BLA klar in einem „modellbasierten“ sozialen Kognitionsprozess, bei dem Verhalten auf Grundlage emotionaler und sozialer Faktoren reguliert wird (Kalenscher et al., 2025).

    Die Ergebnisse dieser Studie haben weitreichende Implikationen, denn so könnten Erkrankungen wie Autismus oder Psychopathie, bei denen prosoziale Entscheidungsprozesse gestört sind, künftig differenzierter verstanden werden, wobei sich potenziell neue therapeutische Ansätze eröffnen, um gezielt auf die neuronalen Grundlagen sozialer Kalibrierung einzuwirken – etwa durch Trainingsprogramme oder neuropsychologische Interventionen, die alternative Kompensationsmechanismen fördern.

    Soziale Entscheidungen sind also nicht nur Produkt der Umwelt oder des moralischen Lernens sind, sondern liegen tief in den neuronalen Strukturen des Gehirns verankert, wobei die basolaterale Amygdala dabei als Schlüsselregion wirkt, die mitentscheidet, ob man sein Verhalten primär auf Nähe, Mitgefühl und Zugehörigkeit oder auf Distanz und Eigennutz ausrichtet.

    Literatur

    Kalenscher, T., Lüpken, L. M., Stoop, R., Terburg, D., & van Honk, J. (2025). Steeper social discounting after human basolateral amygdala damage. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:10.1073/pnas.2500692122.