Die Anpassungsfähigkeit menschlicher Populationen an sich verändernde Umwelten wird häufig auf die menschliche Fähigkeit zu sozialem Lernen, Innovation und Kultur zurückgeführt, doch es hat sich andererseits auch gezeigt, dass in einer sich schnell verändernden Umwelt ein hohes Maß an kultureller Variation von Vorteil ist, weil erst diese Dynamik eine effiziente Anpassung ermöglicht. Viele theoretische Modelle gehen jedoch noch immer davon aus, dass ein hohes Maß an kultureller Vielfalt auch bedeutet, dass eine große Menge an nutzlosen und möglicherweise schädlichen Informationen erhalten und genutzt werden muss, was aber zu einer geringeren allgemeinen Fitness der Bevölkerung führt.
Ammar, Fogarty & Kandler (2023) haben in einer Simulationsstudie untersucht, wie diese oft widersprüchliche Beziehung zwischen Anpassung und kultureller Variation zustande kommen kann, wobei man ausdrücklich das Zusammenspiel zwischen sozialem Lernen und Umweltvariabilität sowie die Fähigkeit zu einem Gedächtnis, d. h. zum Speichern, Abrufen und Vergessen von Informationen berücksichtigte, denn erst ein Gedächtnis ermöglicht es Individuen, unausgesprochene kulturelle Variationen zu bewahren, die sich nicht direkt auf die Anpassung auswirken.
Man konnte in diesem Simulationsexperiment nun zeigen, dass die Gedächtnisfähigkeit die Evolution des sozialen Lernens in einem breiteren Spektrum von Umständen noch mehr erleichtert als bisher angenommen. In diesem erweiterten Simulationsmodell für die Evolution des sozialen Lernens wurde berücksichtigt, wie sich Tiere im Laufe ihres Lebens an wichtige Informationen erinnern, wie sie diese vergessen und wie sie diese weitergeben. Es zeigte sich, dass ein Individuum, das sich alles merken kann und nichts vergisst, zwar potentiell eine riesige Auswahl an möglichen Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten hat, sich aber genau deshalb bei Entscheidunen häufig für das Falsche entscheidet, während Individuen, die weniger nützliche Verhaltensweisen vorhielten, oft bessere Entscheidungen trafen, d. h., Vergessen kann also von Vorteil sein, ebenso wie soziales Lernen durch die Beobachtung anderer bei der Lösungsfindung. Durch das Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen werden Informationen, die Tiere und Menschen im Laufe ihres Lebens sammeln, entweder als nützliche Werkzeuge und Verhaltensweisen im Gedächtnis abgespeichert oder sie werden eben vergessen. Diese passgenaue Auswahl an kulturellem Wissen ermöglichte es Individuen im Simulationsmodell erst, voneinander zu lernen und zu gedeihen, selbst in einem dynamischen Lebensraum mit häufigen Veränderungen. Das könnte erklären, warum soziales Lernen bei Tieren aus einer Vielzahl verschiedener Lebensräume so weit verbreitet ist.
Diese Studie widerlegt also die vorherrschende Lehrmeinung, dass sich soziales Lernen nur unter relativ stabilen Umweltbedingungen entwickeln kann, während unter dynamischen Umweltbedingungen Innovation durch natürliche Selektion begünstigt wird. Durch die Integration von Gedächtnis und Vergessen kann soziales Lernen unter einer breiteren Palette von Umweltbedingungen entstehen, als bisher für möglich gehalten wurde. Das Zusammenspiel von Lernen, Erinnern und Vergessen erweitert also die Bedingungen, unter denen sich soziales Lernen herausbilden kann, wobei sich Gedächtnis, Vergessen und soziales Lernen im Laufe ihrer Entwicklung gegenseitig beinflussen.
Literatur
Ammar, Madeleine, Fogarty, Laurel & Kandler, Anne (2023). Social learning and memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120, doi:10.1073/pnas.2310033120.
https://www.mpg.de/20708792/gedaechtnis-vergessen-und-soziales-lernen (23-08-10)