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Das kolonialisierte Gehirn

    Viele Annahmen über das menschliche Gehirn sind falsch, zum Beispiel die Vorstellung, es gäbe Hierarchien im Gehirn, das heißt, man ging davon aus, es gäbe höhere, rationale Zentren und niedere, wo Triebe, Begierden, irrationale Überzeugungen, also alles Gefährliche sitzt. Das ist aber eine sehr vereinfachende Sichtweise, die auch heute noch oft in der Forschung anzutreffen ist und ihren Ursprung in sozialen und kolonialen Hierarchien hat. Vermeintlich höheren Hirnzentren und -funktionen wird die Kontrolle über vermeintlich primitive Triebe und Begierden zugeschrieben, und psychische Erkrankungen wurden lange Zeit als Verlust dieser herrschaftlichen Kontrolle verstanden, und die Betroffenen wurden Machttechniken ausgeliefert, die aus den Kolonien reimportiert wurden.

    Auch Freud vertrat diese Auffassung, wobei man ihm zugute halten muss, dass es bei ihm immerhin drei Instanzen gab: Es, Ich und Über-Ich. Viele Konstrukte haben nur zwei Elemente: den frontalen Kortex, der das Rationale repräsentiert, und den ganzen Rest des Gehirns. Früher ging man davon aus, dass sich das Gehirn wie ein Turm entwickelt, dass also während des Heranwachsens, wie in der Evolution, nach und nach neue Hirnregionen funktionsfähig hinzukommen, und dass bei Krankheiten auch alles von oben nach unten wieder abgebaut wird.