Das menschliche Gedächtnis gilt als unverzichtbare Grundlage unseres Selbstverständnisses, erweist sich jedoch als überraschend unzuverlässig. Erinnerungen entstehen nicht durch das exakte Speichern von Ereignissen, sondern durch fortlaufende Rekonstruktionen, die stark von aktuellen Emotionen, Überzeugungen und Erwartungen geprägt sind. Suggestive Fragen, soziale Einflüsse oder wiederholte Erzählungen können Inhalte verändern, ergänzen oder sogar vollständig neue Ereignisse erzeugen, die subjektiv überzeugend wirken.
Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen dazu neigen, vage Eindrücke mit lebhaften Details auszugestalten, wodurch falsche Erinnerungen besonders stabil erscheinen. Dies kann weitreichende Folgen haben – etwa in therapeutischen Kontexten, in denen wiederentdeckte Erinnerungen teilweise auf unbeabsichtigter Suggestion beruhen. Historische Kontroversen um angeblich verdrängte traumatische Erfahrungen verdeutlichen, wie solche Vorstellungen gesellschaftliche Ängste, moralische Paniken und schwerwiegende Fehleinschätzungen begünstigen können.
Obwohl viele Forschende heute von einer hohen Anfälligkeit des Gedächtnisses für Verzerrungen ausgehen, hält sich der Glaube an verdrängte oder später rekonstruierbare Erlebnisse in Teilen der psychotherapeutischen Praxis weiterhin. Dabei besteht die Herausforderung darin, echte traumatische Erfahrungen ernst zu nehmen, ohne unkritisch jede Erinnerung als objektiv gültige Tatsache zu betrachten. Eine sorgfältige, fachlich fundierte Prüfung ist unerlässlich, um sowohl Fehlbeschuldigungen zu vermeiden als auch Betroffene vor erneuter Entwertung ihres Leids zu schützen.
Literatur
Bartlett, F. C. (1932). Remembering: A study in experimental and social psychology. Cambridge University Press.
Loftus, E. F., & Ketcham, K. (1994). The myth of repressed memory: False memories and allegations of sexual abuse. St. Martin’s Press.
Pazder, L., & Smith, M. (1980). Michelle remembers. Pocket Books.