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Verklärung von Gesundheit: Ein kritischer Blick auf die Nostalgie

    Wenn Menschen die Gesundheit früherer Generationen verklären, mag dies zunächst harmlos erscheinen. Doch diese Art von nostalgischer Rückschau kann ideologische Vorstellungen befördern, die in der Vergangenheit verheerende Folgen hatten. Eine kritische Betrachtung zeigt, wie die vermeintlich unschuldige Behauptung, Menschen seien früher gesünder gewesen, mit historischen Konzepten von „Degeneration“ und „Verfall“ verknüpft ist.

    Die Vorstellung, dass die Gesundheit der jüngeren Generationen abgenommen hat, findet sich oft in Gesprächen über die Nachkriegszeit. Ältere Menschen berichten von einem Leben mit kaum Krankheiten, während „heutzutage“ jeder ständig über Befindlichkeiten klagt. Diese Ansicht steht jedoch im Widerspruch zur Realität, denn die Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Die Behauptung, dass die Menschen früher gesünder waren, impliziert, dass sie heute trotz längeren Lebens eine schlechtere Lebensqualität haben. Diese Annahme kann zu der extremen Überlegung führen, dass ein langes Leben ohne wahrgenommene Lebensqualität „wertlos“ sein könnte.

    Solche Ideen sind nicht neu. Das 19. und frühe 20. Jahrhundert waren von einer regelrechten Besessenheit mit dem angeblichen Verfall von Gesundheit und Moral geprägt. Unter dem Begriff „Degeneration“ wurden angebliche körperliche und psychische Leiden als erbliche Schwächen betrachtet. Dieser Diskurs erstreckte sich auch auf die kulturelle Ebene. Inmitten von Urbanisierung und industriellem Fortschritt wurde „Dekadenz“ in Kunst und Kultur wahrgenommen. Ein bekannter Mediziner und Autor dieser Zeit schrieb ein einflussreiches Werk, das moderne Kunst als pathologisch und mit psychiatrischen Symptomen behaftet darstellte. Obwohl dieser Autor selbst jüdischer Herkunft war, trugen seine Theorien maßgeblich zur späteren Diffamierung „entarteter“ Kunst bei. Die nationalsozialistische Ideologie griff diese Ideen auf, um Kunst und Kultur zu pathologisieren.

    Die Verknüpfung von Krankheit, kulturellem Verfall und moralischer Schwäche gipfelte in der Rechtfertigung von Euthanasie. Zwei Autoren, ein Jurist und ein Psychiater, veröffentlichten 1920 eine Schrift, in der sie die Tötung von „geistig Toten“ befürworteten. Sie meinten damit nicht Hirntote im heutigen Sinne, sondern Menschen mit Demenz oder schweren angeborenen Behinderungen. Diese Veröffentlichung bildete die ideologische Grundlage für die späteren Massenmorde an Kranken und Menschen mit Behinderungen durch den NS-Staat.

    Auch wenn es keine direkte Linie von der Alltagsbehauptung, dass die Jungen kränklicher seien, bis hin zur Rechtfertigung von Massentötungen gibt, zeigt sich, wie verschiedene Ideen miteinander verknüpft sind. Die Vorstellungen von individueller Schwäche, dem Verfall ganzer Familien oder Völker und der kulturellen „Dekadenz“ können in ideologischem Denken zusammenfließen, das auf der nostalgischen Idee einer heroischen, gesunden Vergangenheit aufbaut. Obwohl solche Ideologien als überwunden gelten, leben sie in verschiedenen Formen weiter. Begriffe wie „degeneriert“ und „Dekadenz“ sind im Vokabular rechter Subkulturen präsent. Wenn Gesundheit obsessiv in der Vergangenheit gesucht wird, kann dies in der Gegenwart unangenehme Folgen für kranke oder schwächere Menschen haben. Es ist daher wichtig, sensibel auf solche Aussagen zu reagieren und ihre möglichen historischen und ideologischen Wurzeln zu erkennen.