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Die Wahrheit über Gewohnheiten

    Die weit verbreitete Annahme, dass es lediglich 21 Tage benötigt, um eine neue Gewohnheit zu etablieren, steht im deutlichen Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften. Diese Forschungsergebnisse zeigen überzeugend, dass ein Zeitraum von drei Wochen bei Weitem nicht ausreichend ist, um eine tiefgreifende und dauerhafte Verhaltensänderung zu bewirken. Die sogenannte „21-Tage-Regel“, die ihren Ursprung in den 1960er-Jahren hat, wurde ursprünglich von einem Schönheitschirurgen namens Maxwell Maltz formuliert. Maltz beobachtete bei seinen Patienten, dass sie durchschnittlich etwa 21 Tage benötigten, um sich an ihr neues Aussehen nach einer Operation zu gewöhnen. Er extrapolierte diese Beobachtung auf die Bildung neuer Gewohnheiten im Allgemeinen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Maltz‘ Schlussfolgerung weniger auf strenger wissenschaftlicher Evidenz beruhte als vielmehr auf anekdotischen Beobachtungen im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit. Diese Beobachtungen wurden in seinem Buch „Psycho-Cybernetics“ popularisiert, fanden aber in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wenig Rückhalt.

    Neuere, fundierte Studien und Erkenntnisse aus der Hirnforschung, insbesondere solche, die sich auf die Neuroplastizität des Gehirns konzentrieren, verdeutlichen, dass nachhaltige Veränderungen in Denk- und Verhaltensmustern einen deutlich längeren und komplexeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Die Neuroplastizität beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, sich im Laufe des Lebens kontinuierlich zu verändern und anzupassen, indem es neue neuronale Verbindungen knüpft und bestehende Verbindungen stärkt oder schwächt. Dieser Prozess ist jedoch nicht instantan und erfordert Zeit, Wiederholung und eine gezielte Anstrengung.

    Das Gehirn beginnt zwar innerhalb der ersten drei Wochen, neue Gedankenmuster zu formen, und es entstehen erste neuronale Verbindungen, die diese Muster repräsentieren. Diese Verbindungen sind jedoch in diesem frühen Stadium noch instabil, flüchtig und anfällig für Störungen. Sie können daher noch nicht als stabile Denkprozesse betrachtet werden, die eine tief verwurzelte Gewohnheit widerspiegeln. Es ist eher eine Art „neuronales Rohgerüst“, das noch verstärkt und gefestigt werden muss.

    Die Festigung dieser neuen Verbindungen sowie die Erzielung nachhaltiger neuronaler Veränderungen, die eine Verhaltensänderung dauerhaft verankern, bedingt einen Zeitraum von insgesamt rund neun Wochen, also etwa 63 Tagen. Untersuchungen, die mittels bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) durchgeführt wurden, zeigen, dass das Gehirn während dieses Zeitraums signifikante strukturelle und funktionelle Veränderungen durchläuft. Bestimmte Hirnregionen, die an der Gewohnheitsbildung beteiligt sind, wie beispielsweise die Basalganglien und der präfrontale Kortex, zeigen eine erhöhte Aktivität und eine stärkere Vernetzung. Diese Veränderungen sind besonders ausgeprägt bei Menschen, die an psychischen Störungen wie Depressionen oder Ängsten leiden, da diese oft von tief verwurzelten negativen Denkmustern und Verhaltensweisen geprägt sind, die eine besondere Anstrengung erfordern, um sie zu verändern.

    Der Prozess der Gewohnheitsbildung manifestiert sich demnach in verschiedenen Phasen. In den frühen Phasen zeigt das Unterbewusstsein häufig eine frühere Reaktion auf Veränderungen als das bewusste Erleben. Das bedeutet, dass man möglicherweise schon unbewusst neue Verhaltensweisen zeigt, bevor man sich dessen bewusst wird. Diese unbewussten Prozesse spielen eine entscheidende Rolle bei der Automatisierung von Gewohnheiten.

    Für die Etablierung nachhaltiger Routinen – sei es die Integration von Meditation in den Alltag, die Einführung einer neuen Morgenroutine, die auf Achtsamkeit basiert, oder eine veränderte Geisteshaltung gegenüber Herausforderungen – ist demnach Geduld, Selbstmitgefühl und Kontinuität über einen Zeitraum von mindestens 63 Tagen erforderlich. Es geht nicht nur darum, eine neue Handlung 63 Tage lang zu wiederholen, sondern auch darum, während dieser Zeit achtsam und bewusst mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen umzugehen, um die neuen neuronalen Verbindungen im Gehirn optimal zu festigen. Die 21-Tage-Regel mag als Motivation dienen, um anzufangen, aber wahre Veränderung braucht Zeit und Hingabe.

    Literatur

    Maltz, M. (1960). Psycho-Cybernetics: A New Way to Get More Living Out of Life. Prentice-Hall.