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Vom Unsinn des Dualismus

    Da sich das Gehirn und mit ihm das Gedächtnis erst in der Auseinandersetzung mit seiner physischen und sozialen Umwelt ausbildet und strukturiert, ist die Gehirn- und Gedächtnisentwicklung prinzipiell ein biosozialer Prozess, wobei organische und psychosoziale Reifung in der menschlichen Entwicklung lediglich unterschiedliche Aspekte ein und desselben Vorgangs sind. Prinzipiell ist das Gedächtnis zunächst ein Mechanismus, der die Erfahrung mit einer Umwelt in die Struktur des Nervensystems des entsprechenden Organismus umsetzt, hat also prinzipiell einen Bezug auf die Entwicklung eines Lebewesens in einer spezifischen Umwelt, wobei diese Entwicklung erfahrungs- oder nutzungsabhängig verläuft.

    Gedächtnis ist somit nichts anderes, als die Umsetzung von Umwelterfahrungen in die sich organisierende neuronale Struktur des sich entwickelnden Lebewesens selbst, und dieses Prinzip gilt auch für alle Lebewesen, auch für den Menschen. Das menschliche Gehirn ist zum Zeitpunkt der Geburt zwar in vielerlei Hinsicht schon außerordentlich weit entwickelt, denn Säuglinge können hören, sehen, riechen, fühlen, schmecken und kommunizieren, aber es ist verglichen zum erwachsenen Reifezustand und auchzu Primatengehirnen, ausgesprochen unreif.

    Vor allem ist es das autobiographische Gedächtnis, das den Menschen zum Menschen macht, denn es ermöglicht ihm, »Ich« sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnissystems ist erst mit dem Erwachsenenalter vollständig abgeschlossen, wobei seine Entstehung auf einem komplexen Zusammenspiel hirnorganischer Reifungsvorgänge, sozialer Entwicklungsanreize und psychischer Entwicklungsschritte basiert.

    Vor diesem Hintergrund ist der unfruchtbare Dualismus von Gehirn und Geist, Natur und Kultur in der Forschung mehr oder minder obsolet.