Heute wird in der Biologie die DNA nicht mehr als alleinige Trägerin von Informationen betrachtet, sondern ihre Informationen entstehen erst im Kontext von zellulären und Umwelt-Ereignissen. Man ist daher in der Biologie von dieser Ansicht abgerückt und immer weniger BiologInnen gehen heute davon aus, dass die DNA das Individuum vorbestimmt. Dennoch hält sich diese deterministische Auffassung in populären Vorstellungen und ist etwa auch in biologischen Auffassungen von Geschlecht weiter präsent. Aktuelle biologi-sche Konzepte beschreiben zwar die Entstehung und Bestimmung des Geschlechts als das Ergebnis eines Netzwerkes von miteinander interagierenden Genen beziehungsweise deren abgelesenen Produkten, doch zugleich besteht aber die Vorstellung weiterhin, diesem Netzwerk sei ein einzelnes Gen vorgeschaltet, also eine Art Mastergen, das die Entwicklung von „weiblich“ zu „männlich“ determiniert. Generell setzt sich in der Biologie die Auffassung durch, dass Entwicklungsprozesse nicht einfach auf die Wirkung eines oder weniger Gene reduziert werden können, sondern es zeigt sich, dass verschiedene Gene beziehungsweise Genprodukte in komplexer Weise zusammenwirken und auf Einflussfaktoren der Zelle, des Organismus sowie der Umwelt reagieren.
So muss etwa das Verständnis der Geschlechtsentwicklung vor diesem Hintergrund überdacht werden, denn Chromosomen, Gene und andere Faktoren determinieren nicht das biologische Geschlecht, vielmehr bilden sich die als geschlechtlich betrachtete Merkmale wie Genitalien entsprechend den individuell spezifisch wirkenden Faktoren in einem Prozess aus, dessen Ergebnis nicht vorbestimmt ist. Ein solcher Prozess ist zu jedem Zeitpunkt offen für verschiedenste Einflüsse der Zelle, des Organismus und der Umwelt, sodass sich Merkmale, also auch die Genitalien, individuell unterschiedlich ausprägen, wobei zahlreiche Kombinationen auch zwischen heute als „weiblich“ beziehungsweise „männlich“ betrachteten Merkmalen auftreten. Somit stellt die binäre Einteilung in „weiblich“ und „männlich“ lediglich eine gesellschaftliche Einordnung dar, die vielfach noch mit einer Auf- oder Abwertung verbunden ist.
Literatur
Voß, Heinz-Jürgen (2009). Angeboren oder entwickelt? Zur Biologie der Geschlechtsentwicklung (S. 13-20). Gen-ethischer Informationsdienst 9.